Narzisstisch ist doch irgendwie jeder!

Narzissmus ist ein Lebensthema und betrifft jeden von uns. Jeder verhält sich in Situationen narzisstisch, in denen er sein Selbstwertgefühl regulieren muss. Insofern steht Narzissmus nicht nur für ein überzogenes und krankhaftes Verhalten, sondern wirkt im rechten Maß lebenserhaltend und -stärkend. Narzissmus entspricht einem menschlichen Grundbedürfnis und ist somit durchaus wünschenswert, solange ein bestimmtes Maß nicht überschritten wird.

Narzisstisch ist doch irgendwie jeder!

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Narzisstisch ist nicht nur ein Mensch, der seiner eigenen Person übermäßige Bedeutung beimisst und sich immer vor anderen hervortun muss. Narzissmus beschreibt zunächst den Grad an Selbstliebe, die ein Mensch für sich selbst empfindet, sowie an Selbstachtung, die sich jeder bewahren sollte. Die Ausprägung des eigenen Narzissmus kann anzeigen, inwieweit ein Mensch sich selbst genügen kann oder inwieweit er auf die positive Resonanz und Bestätigung aus seiner Umwelt angewiesen ist, weil er nicht in der Lage ist, seinen Selbstwert aus sich selbst heraus eigenständig zu regulieren.

Mit anderen Worten beschreibt der Narzissmus immer auch den Grad der Abhängigkeit von anderen Menschen, denen man gefallen möchte oder gefallen zu müssen glaubt. Je narzisstischer ein Mensch ist, desto mehr hat das Ego die Macht über seine Persönlichkeit übernommen. Dieser Mensch lässt sich weniger von dem leiten, was er fühlt und was er ist, als vielmehr von Äußerlichkeiten und dem Ziel, ein perfektes Image aufzubauen. Dadurch verliert er sich selbst aus dem Auge und lebt größtenteils das, was andere von ihm erwarten oder womit er Anerkennung bekommen kann, und nicht das, was er wirklich ist.

Der Mensch beschäftigt sich vom ersten Tag seines Lebens an mit der Selbstwertregulierung. Er will, dass seine Mitmenschen ihm seinen Wert spiegeln, und ist insofern von anderen abhängig, weil er unbewusst nach deren Anerkennung sucht. Ohne die Akzeptanz aus dem sozialen Umfeld fällt es jedem Menschen schwer, sich richtig einzuschätzen, ein Gespür für den eigenen Wert zu bekommen und sich in seiner Haut wohlzufühlen. Daher verhält sich jeder narzisstisch – der eine mehr, der andere weniger.

Man kann also von einem Grundbedürfnis sprechen, das Menschen dazu verleitet, narzisstisch zu sein. Wir suchen Situationen und Menschen, in oder bei denen wir uns angenommen und bestätigt fühlen, um so in einen Zustand der Sicherheit und Geborgenheit zu gelangen. Fühlen wir uns nicht angenommen, werden wir abgewertet oder ausgegrenzt, dann müssen wir zwangsläufig auf einen negativen Eigenwert schließen. Die mangelnde Akzeptanz anderer lässt uns in Selbstzweifel in Bezug auf die eigenen Fähigkeiten geraten, weshalb wir uns in der Folge – aus einem reinen emotionalen Überlebenstrieb heraus – den äußeren Umständen anpassen. Die Folge ist eine Ausrichtung an den Meinungen und Werten der anderen oder der Gesellschaft, um sich akzeptiert und somit sicher zu fühlen. 

Narzisstisch zu sein bedeutet nicht automatisch, gestört zu sein

Narzisstisch zu sein entspricht nicht immer gleich einer psychologischen Störung, sondern ist in vielen Fällen eine schlichte Anpassungsreaktion. Jemand, der die Fähigkeit besitzt, sich in ein besseres Licht zu rücken, mit guten Leistungen zu imponieren, durch ein bestimmtes Talent die Aufmerksamkeit der anderen zu gewinnen oder kompetent aufzutreten, kann damit eine maximale Stärkung des Selbstwertgefühls erreichen. Narzisstisch zu sein ist also zunächst eine Grundeigenschaft des Menschen, weil jeder ein seelisches Gleichgewicht anstrebt.

Es gibt aber unterschiedliche Ausprägungen, die von einem verdeckten, kaum wahrnehmbaren Narzissmus über einen gesunden bis hin zu einem pathologischen und bösartigen Narzissmus reichen. Jeder Mensch entwickelt sozusagen seine eigene Form, um die notwendige Bestätigung und Akzeptanz aus der Umwelt zu bekommen und sich so seines Werts als Person vergewissern und ihn aufrechterhalten zu können. Narzisstisch zu sein bedeutet auch, sein Wohlbefinden zu steigern, indem man Situationen sucht, die einen aufwerten und aufrichten können.

Der positive Narzissmus

Menschen mit einem positiven Narzissmus haben ein gesundes Selbstwertgefühl. Sie schätzen und achten sowohl sich selbst als auch ihre Mitmenschen. Sie sind sich ihres Wertes als Person bewusst, ohne sich dabei zu überschätzen und die Fähigkeiten anderer Menschen zu unterschätzen. Sie können sowohl zu ihren Talenten und Stärken als auch zu ihren Schwächen und Grenzen stehen. Sie wissen, dass sie nicht perfekt sein müssen. Sie brauchen weder sich noch anderen etwas vorzumachen, sondern können aufgrund ihres hohen Vertrauens in die eigene Person aus sich selbst schöpfen.

Ein solcher Mensch hat gleichfalls die Fähigkeit, jederzeit auf die positiven Anteile seiner Persönlichkeit zurückgreifen zu können, um sich selbst zu stärken. Er kann sich selbst loben und beglückwünschen, aber auch selbst beruhigen und trösten. Er kann sich in den Arm nehmen und Mut zusprechen. Er hat einen großen Speicher potenzieller Eigenliebe, auf den er im Fall von Misserfolgen und Kränkungen zurückgreifen kann.

Der negative Narzissmus

Aber nicht jeder Mensch ist mit einem gesunden Narzissmus und Selbstwert ausgestattet. Viel öfter ist zu beobachten, dass sich Menschen entweder extrem anpassen und unterordnen, um die Akzeptanz der anderen zu erhalten, oder sich extrem aufblasen, über andere erheben und sich wichtigtun, um von allen Seiten bewundert zu werden.

Der negative Narzissmus kann sich in zwei entgegengesetzte Richtungen entwickeln: zum einen hin zu übermäßiger Selbstliebe, die sich in einem Gefühl der Grandiosität gegenüber der eigenen Person zeigt, und zum anderen hin zu mangelnder Selbstliebe, die sich in einem ständigen Erleben von Minderwertigkeitsgefühlen äußert. In beiden Fällen wird solchen Menschen eine Zurückweisung oder Missachtung ihrer Person samt ihren Fähigkeiten und Leistungen schwer zu schaffen machen, weil sie nicht – wie beim gesunden Narzissmus – in der Lage sind, ihren Wert aus sich selbst zu schöpfen, sondern von der Meinung anderer zwingend abhängig sind.

Im Fall einer Kränkung hadern solche Menschen mit sich und grämen sich insbesondere über die Menschen, die ihnen das angetan haben. Teilweise verfallen sie sogar in einen grenzenlosen Hass oder in tiefe Depressionen. In diesen Fällen liegt eine eklatante Störung des Selbstwertgefühls vor. Solche Menschen tragen immer Selbstanteile in sich, die ihnen nicht gefallen und die sie gerne vor anderen verbergen und leugnen. Je schwächer das eigene Selbstwertgefühl ist, desto mehr werden die negativen Anteile verdrängt und auf andere projiziert und desto mehr wird versucht, mit den vermeintlich positiven Seiten bei anderen zu punkten. 

Das Selbstbild gründet sich dann auf einer mehr oder weniger unrealistischen Vorstellung. Die Ansprüche an sich und an die Umwelt sind überzogen und die Erwartungen müssen auf diese Weise vielfach enttäuscht werden.

Beim gesunden Narzissmus dient die Anerkennung lediglich der Bestätigung des Selbstwertes. Bei den anderen Formen des Narzissmus dient die Bestätigung in erster Linie dazu, überhaupt einen eigenen Wert zu fühlen und zu erkennen. Beim negativen Narzissmus ist der Mensch entweder gar nicht oder nur unzulänglich in der Lage, sich selbst zu bestätigen und eine gesunde Selbstliebe zu entwickeln. Er kann keine ausgewogene Selbsteinschätzung seiner Person vornehmen, sondern braucht immer das Urteil des Gegenübers, das stets positiv ausfallen muss. Erhält er eine negative Rückmeldung, reagiert er äußerst empfindlich und in der Regel nicht der Situation angemessen.

Das Selbstwertgefühl ist nicht konstant

Das Selbstwertgefühl ist keine konstante Größe, die einmal aufgebaut wird und dann in jeder Situation für den Rest des Lebens zur Verfügung steht. Gegenüber unserem Partner fühlen wir uns vielleicht stark und selbstbewusst, gegenüber dem Chef aber klein und abhängig. Ein Schicksalsschlag kann uns zutiefst erschüttern und unser Selbstwertgefühl mindern, ein Erfolg oder die positive Veränderung von Umständen kann unsere Selbstvertrauen beflügeln. Das Selbstwertgefühl und damit die Art des gelebten Narzissmus kann sich sowohl im Laufe eines Tages als auch das ganze Leben hindurch ständig ändern.

Die Frage, ab wann man wirklich davon sprechen kann, dass sich ein Mensch übertrieben oder gar krankhaft narzisstisch verhält, ist schwer zu beantworten. So kann beispielsweise der exzessive Arbeitseifer einer Person der Ausdruck eines übertriebenen Ehrgeizes sein: Die Person möchte durch Leistung beeindrucken. In einem anderen Fall kann es sich aber auch einfach nur um Freude an der Arbeit oder einer Betätigung handeln: Diese Person will sich in ihrem Werk verlieren. Der Selbstwert des einen wird bestärkt, wenn er brillante Erfolge erzielt und entsprechend honoriert wird, der andere fühlt sich wohl, wenn er etwas geschaffen hat.

In krankhaften Fällen bewahren Menschen ihr Selbstwertgefühl vor dem totalen Zusammenbruch, indem sie durch Größenphantasien, Perfektionismus, vermeintliche Grandiosität, das Streben nach hohen Idealen, übertriebene Eigenliebe und das konsequente Leugnen der negativen Persönlichkeitsanteile ihre innere Labilität verbergen. Sie tun alles, um in einem besseren Licht zu erscheinen, und machen sich größer, als sie in Wirklichkeit sind. Solche Menschen suchen ihre Befriedigung nur in Äußerlichkeiten und machen sich nahezu vollständig von diesen abhängig.

Selbstliebe und somit der Aufbau eines stabilen Selbstwertes kann nur im Kontakt mit sich selbst erzielt werden.

Insofern kann jeder Mensch seine eigenen narzisstischen Anteile und seine eigene narzisstische Ausprägung feststellen und auf den Grad der eigenen Selbstliebe schließen: Je mehr man auf die Bewunderung und Bestätigung von außen angewiesen ist, desto weniger ist man in der Lage, aus sich selbst heraus das notwendige Selbstbewusstsein aufzubauen. Eine solche Person benötigt andere Menschen, die ihr ihr Selbstbild spiegeln und bestätigen sollen. 


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Veröffentlicht in Narzisstische Gesellschaft
4 Kommentare zu “Narzisstisch ist doch irgendwie jeder!
  1. Kronester sagt:

    Ich finde diesen Artikel sehr aufschlussreich, da man sich selbst doch mal etwas genauer betrachten kann. Diese verschiedenen Nuancen vom Narzissmus sind eine Möglichkeit sich selbst genauer zu betrachten

  2. Sven S. sagt:

    Im Notfall Futter ich „intrinsische Ego-Keckse“ ;). Das tut gut und niemandem weh.

    Danke für diesen Text.
    Mal die Balance.

    Allerdings habe ich von meiner Selbstisolation jetzt langsam die Nase voll.
    Auch wenn’s gut war Kontakte auf Null zu haben um mir die ganzen Splitter aus dem Herzen zu ziehen.

    Weiß nur nicht, ob ich schon wieder genug habe um was abzugeben.
    Damit bin ich nun vorsichtiger.

    Zugegeben übervorsichtig, aber das wird hoffentlich wieder.

  3. Rabe sagt:

    Vielen Dank für diesen mich zu tieferem Nachdenken anregenden Artikel!
    Sich selbst kennen zu lernen und zu begreifen ist wohl oft Antrieb für viele Auseinandersetzungen. Auch die Beschäftigung mit eigenem und fremdem Unbill. So komme ich von „Stöckchen“ auf „Hölzchen“ und sehe nicht mehr klar. Aber dieses „Gemenge“ kommt dann wohl der Wahrheit am Nächsten . Die Welt ist nicht erklärbar, sie will geliebt werden. Darin schwimmen kleine rationale Inseln. Ich glaube, Ihr Artikel wirkt gerade auf mich Sinn stiftend! Vielen Dank Herr Grüttefien!

  4. Adriane sagt:

    Sehr gut veranschaulicht und differenziert. Danke für die Darstellung.

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